Ein weiter Blick: Arbeit als Teil der Menschheitsgeschichte
Buchvorstellung „Matrix der Arbeit – Materialien zur Geschichte und Zukunft der Arbeit“
12. September 2023, IG Metall Berlin
IGZA präsentiert siebenbändiges Werk
Gut 70 Interessierten aus Wissenschaft, Politik und Gewerkschaften hat das Institut für die Geschichte und Zukunft der Arbeit (IGZA) seine „Matrix der Arbeit“ Mitte September 2023 im Berliner IG Metall-Haus präsentiert. „Ein großes Werk“, würdigte der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Jürgen Kocka die sieben Bände mit Analysen, Thesen, Statistiken und Grafiken. Als weitere Gastrednerin wies Andrea Nahles, Vorsitzende des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit, darauf hin, dass die Untersuchungen zu Automatisierung und Produktivität deshalb so interessant seien, weil sie wesentliche Faktoren der Zukunft von Arbeit und Wohlstand darstellten.
Begrüßung
Jörg Hofmann, 1. Vorsitzender der IG Metall, freute sich, dass die Vorstellung des großangelegten Werks zur Geschichte und Zukunft der Arbeit im Haus der IG Metall stattfindet. Als Kuratoriumsmitglied des IGZA habe er den langjährigen Entstehungsprozess der 7 Bände begleitet und halte das Ergebnis für eine sehr willkommene und notwendige Orientierung in den Debatten um die Zukunft von Arbeit, Umwelt und globaler Entwicklung.
Die Moderatorin Nancy Böhning, Leiterin des Ressorts Politik und Verbände der IG Metall, hoffte, dass trotz der großen Komplexität der 7 Bände mit 2 400 Seiten und 1 100 Abbildungen, die Hauptlinie der Analyse und Argumentation der Leserschaft und auch heute schon in der Präsentation deutlich würden – einfach sei das Werk nicht, aber es könne in der Entwicklung von sozialen und ökologischen Perspektiven hilfreich sein.
Vorträge
„Im Alltagsbewusstsein der meisten Menschen dominiert heute ein düsteres Zukunftsbild.“, stellte Horst Neumann, Vorstand des IGZA, fest. Viele Sozialwissenschaftler diagnostizierten ein Scheitern der Aufklärung und das Ende des Fortschrittsglaubens, zuletzt zum Beispiel Steffen Mau und Philipp Staab. „Aus unserer Sicht ist das nur die halbe Wahrheit. Der historische Blick auf die Entwicklung der ‚Produktiv- und Destruktivkräfte‘ der menschlichen Arbeit zeigt beides: Zerstörungen und Bedrohungen sozialer, ökologischer, militärischer und despotischer Art ebenso wie ein enorm gewachsenes Potenzial für Wohlstand, Nachhaltigkeit und Freiheit“. Die Geschichte sei nicht determiniert. „Es liegt an uns, die Freiheitsgrade für Gute Arbeit und ein besseres Leben zu nutzen. Dies ist die Quintessenz aus sieben Jahren interdisziplinärer Analyse der 300 000 Jahre Wildbeuterzeit, 5 000 Jahre Hierarchischer Agrikulturepoche und bislang 250 Jahren kapitalistischer Marktwirtschaft und Produktionsweise.“
Die 5 000er Transformation müsste klarer in den Blick genommen werden, mit all ihren positiven und negativen Seiten. Einerseits sei die ‚Zivilisation‘ mit Schrift, Texten, Mathematik, Astronomie und Medizin entstanden. Andererseits habe in diesen Gesellschaften durch eine höhere Produktivität mit knappem Reichtum auch die ‚Barbarei‘ von Hierarchie, Krieg und Patriachat ihren Ursprung. „Davon wird bis heute das Leben und Denken der Menschen beherrscht – diese Traditionen müssen wir überwinden.“
Die Entwicklung der Produktivität der Arbeit, den roten Faden der 7 Bände, stellte Cornelius Markert, Geschäftsführer des IGZA, vor. Den ersten Schub um das 3-Fache gab es vor 5 000 Jahren auf Basis der Agrikultur mit Pflug und Zugtier sowie großen Bewässerungssystemen – zunächst in den Flusstälern Mesopotamiens, Ägyptens, später dann in Indien und China. Der zweite, wesentlich größere Sprung der Produktivität um das 90-Fache habe vor rund 250 Jahren begonnen, in der kapitalistischen Epoche – ausgehend von den Niederlanden und England. Ab 1950 begann nach der Industrialisierung die Digitalisierung, das ‚zweite Maschinenzeitalter‘ mit Computer, Internet und KI. „Die zweite Halbzeit der Produktivitätsentwicklung in der kapitalistischen Epoche steht noch bevor.“ Diese These begründet das IGZA mit dem Automatisierungsgrad der Arbeit. In allen Sektoren der Arbeit – in der Fabrik, den persönlichen Dienstleistungen, der Wissensarbeit und Kultur, im Staat, in der Haus- und Familienarbeit sowie im Handwerk – könne sich dieser deutlich erhöhen, von heute 25 auf zukünftig durchschnittlich 60 bis 70 Prozent.
Diese Produktivitätssteigerungen hätten das Potenzial für ein mögliches Ende der Knappheit, wie es Keynes bereits vor 100 Jahren beschrieben hatte. In einer solidarischen Marktwirtschaft könnte dieses Potenzial in Wohlstand für Alle, planetare Verantwortung für das Leben, Demokratie und Freiheit umgesetzt, Hierarchie, Krieg und Patriachat überwunden werden.
Jürgen Kocka sah in dem Zukunftsbild der Matrix-Materialien „so etwas wie eine sozialdemokratische Utopie über zukünftiges Arbeiten und Leben.“ Die Matrix-Materialien seien das Produkt einer sehr ausgedehnten, gründlichen Rezeption von Forschung aus mehreren Disziplinen – wenn auch sehr deutlich unter dem Einfluss einer Leitdisziplin, nämlich der Ökonomie. Das 7-bändige Werk sei empirisch bestechend und überwältigend, gleichzeitig sehr reflektiert, gedanklich durchdrungen und verknüpfe die empirisch-wissenschaftliche und politische Argumentation. „Eine große Leistung, die für Wirtschafts- und Sozialhistoriker oder Sozialwissenschaftler der verschiedensten Art sehr nützlich sein wird. Ich sehe nicht, dass es in der deutschen Literatur etwas Vergleichbares gibt“.
Einige Aspekte der Matrix sah Kocka kritisch. „Beispielsweise glaube ich nicht, dass die Überwindung der ökonomischen Knappheit durch zunehmende Arbeitsproduktivität zur Überwindung der gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Gegensätze und Kämpfe führt.“ Auch würde er das Verhältnis der Begriffe Kapitalismus und Industrialisierung anders fassen.
Andrea Nahles zeigte sich beeindruckt von der Fülle an historischen Analysen und Einsichten, den langen Linien und dem weiten Blick, den die Matrix-Materialien eröffneten. Insbesondere die Entwicklung der Produktivität der Arbeit sei für sie aus sozialen und politischen Perspektiven und natürlich auch als Vorsitzende der Arbeitsagentur von größtem Interesse. Die These der ‚zweiten Halbzeit‘ sei außerordentlich spannend für die Zukunft auch des deutschen Arbeitsmarktes. Die Bundesagentur für Arbeit habe „eine Dekade der Automatisierung“ eingeläutet. „Wir haben uns einer Human-Friendly-Automation-Initiative mit Audi, RWE, der Rentenversicherung u. a. angeschlossen.“ Eine neue Dynamik bei Innovation und Automatisierung in Verbindung mit Guter Arbeit könne helfen, die demografisch bedingten Probleme von Arbeitskräftemangel und Wohlstandsverlusten in den nächsten Jahrzehnten zu lösen.
Diskussion
Dierk Hirschel, Bereichsleiter Wirtschaftspolitik bei Ver.di, hob hervor, dass in der öffentlichen Diskussion oft über das Rentensystem und den Fachkräftemangel gesprochen wird, während das Wort „Produktivität“ selten erwähnt werde. Daher sei es von großer Bedeutung, dass es nun ein Werk gibt, das sich mit der historischen Entwicklung der Produktivkräfte auseinandersetzt. Angesichts der Aussage, dass ein Automatisierungsgrad von bis zu 80 Prozent möglich sei, stellte er die Frage, ob dies unter den bestehenden kapitalistischen Produktionsverhältnissen rentabel und machbar sei oder ob nicht eine andere Organisationsform von Wirtschaft und Gesellschaft nötig sei, wie zum Beispiel die auch von den Autoren angesprochene Wirtschaftsdemokratie.
Claus Offe, Soziologe und Politikwissenschaftler, erklärte, dass er natürlich den genauen Inhalt der „Matrix“ noch nicht kenne, allerdings die Zusammenfassung und die diskursive Behandlung der Stärken und Schwächen der Bände sehr informativ und anregend fand und schloss eine Frage bezüglich zweier Perspektiven zur Produktivität an. Einerseits gehe es darum, dass die Menschen immer produktiver werden. Andererseits sei die Frage, was der Produktivitätsfortschritt, sofern er überhaupt messbar sei, mit den Menschen mache. Er sprach die Strukturierung der Gesamtheit der Erwerbsarbeit an und betonte, dass diese heute von einer erheblichen und politisch nicht kontrollierbaren Polarisierung geprägt sei. Das Wort „Prekariat“ sei von Jürgen Kocka genannt worden. Er verwies auf Berichte über aktuelle Arbeitsbedingungen, insbesondere den Hyper-Digital-Taylorismus in Amazon-Lagerhäusern, wo jede Körpertätigkeit erfasst und Gegenstand von Kontrollen sei. Es sei die Frage, inwieweit diese Prekarisierung, die Atomisierung der Arbeit und umfassende Kontrolle mit dem Wunsch der Arbeitenden nach Guter Arbeit zusammenpasse und welche Auswirkungen dies auf den sozialen Zusammenhalt habe.
Cornelius Markert stellte heraus, dass die Empirie das Kernstück der Matrix-Materialien sei und gab einen Einblick in den reichen Datenschatz der sieben Bände anhand der Entwicklung der Arbeitsproduktivität.
Im langfristigen historischen Kontext der Geschichte der Arbeit identifizierte er zwei wesentliche Meilensteine in der Entwicklung der Arbeitsproduktivität. Der erste Sprung, der vor etwa 5 000 Jahren ausgelöst wurde, war ein etwa 3-facher Anstieg gegenüber der Handarbeit und begann mit der Einführung des Pflugackerbaus, zunächst in den Flusstälern von Mesopotamien und Ägypten, später in Indien und China.
Der zweite Sprung, der vor etwa 250 Jahren in der kapitalistischen Epoche stattfand, war deutlich größer. Er begann in England, wo technische Möglichkeiten und ökonomische Anreize aufeinandertrafen, Maschinen in der Produktion einzusetzen. Die ersten Fabriken entstanden in der Textilindustrie, Maschinen ersetzten nach und nach, aber in großem Umfang, menschliche Arbeit oder steigerten die Produktivität der eingesetzten Arbeitskräfte erheblich. Im Vergleich zur handwerklich-manufakturiellen Produktion im Verarbeitenden Gewerbe vor 200 Jahren sei die Produktivität in der industriellen Massenproduktion um das über 500-Fache gestiegen. Im Bereich des Weizenanbaus sei die Produktivität mit den „modernen“ Traktoren, Verbrennungsmotoren und dem Einsatz von Chemie im Vergleich zur Handarbeit sogar um das über 600-Fache gestiegen. Cornelius Markert betonte aber auch, dass es trotz der Fortschritte in der Automatisierung nach wie vor bestimmte Tätigkeiten gibt, die weniger stark von dieser Entwicklung betroffen sind. Hierzu zählen Familien- und Hausarbeit sowie der Bereich, der als „DWK“ bezeichnet wird, was persönliche Dienste, Bildung, Wissen und Kultur umfasst.
Viele ÖkonomInnen schauten skeptisch auf die zukünftige Produktivitätsentwicklung. Nach Ansicht des IGZA steht jedoch die ‚zweite Halbzeit‘ des Produktivitätssprungs erst noch bevor. Basis dieser Analyse ist, dass der Kern der Produktivitätsexplosion der letzten 250 Jahre die Automatisierung war und dass deren Potenziale noch erheblich seien. Durch die Digitalisierung würden neue Bereiche der Arbeit für Automatisierung oder Teilautomatisierung durch intelligente Unterstützungssysteme zugänglich. Dies betreffe nicht nur physische Tätigkeiten, sondern auch geistige Arbeit, Bildung, Gesundheit, aber auch den Bereich der Nicht-Erwerbsarbeit. Damit bestünde auch die Chance, in diesen Bereichen monotone und belastende Tätigkeiten zukünftig entfallen zu lassen und auch den ausufernden Bereich der prekarisierten Arbeit wieder einzudämmen. Die Digitalisierung bringe eine völlig neue Dynamik in die Produktivitätsentwicklung. Die Menschheit sei noch dabei, diese Technologie zu verstehen und ihre neuen Möglichkeiten für die Arbeitswelt nutzbar zu machen.
Download Vortragsfolien IGZA:
Matrix der Arbeit 12.09.2023 (PDF)
"Diese 'Materialien' eröffnen einen weiten Blick auf die Geschichte und Zukunft der Arbeit als Teil der Menschheitsgeschichte. Die sieben Bände sind ein reicher Fundus an Fakten und Analysen aus der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und dürften allen, die an der Zukunft der Arbeit und an einem nachhaltigen Wohlstand interessiert sind, neuartige Einsichten und anregende Perspektiven ermöglichen."